In diesem Beitrag möchte ich den Sekundärantrieb von Zweirädern mit quer zur Fahrtrichtung liegender Kurbelwelle beleuchten. Also Ritzel, Kette, Kettenrad.
Die Sekundärübersetzung eines per Kette angetriebenen Motorrads ist alleine deswegen von Interesse, weil sich jeder Motorradfahrer regelmäßig um sie kümmern muss, indem er sie reinigt, schmiert und auf der richtigen Spannung hält, bzw. den korrekten Durchgang überprüft und einstellt. Der komplette Sekundärantrieb ist ein Verschleißteil, und muss je nach Fahrweise und Pflegezustand alle ca. 30.000 km ausgewechselt werden. Spätestens in diesem Moment denkt der Ein oder Andere über eine Änderung der Sekundärübersetzung nach, durch Einbau eines Ritzels oder Kettenrades mit einer von der Originalausstattung abweichenden Zähnezahl. Typischerweise wird eine Verkürzung der Gesamtübersetzung in Betracht gezogen. Verkürzung bedeutet, daß bei gleicher Drehzahl/Gang Kombination eine niedrigere Geschwindigkeit erzielt wird, bei gleichzeitig höherer maximaler Zugkraft am Hinterrad.

Die Frage, ob man die serienmäßige Sekundärübersetzung von der Monster 1200S verändern sollte oder nicht, und was das für Auswirkungen hat, wird in den einschlägigen Foren im Internet regelmäßig aufs Neue diskutiert, z.B. hier, hier und hier. Allerdings überwiegen in derartigem Meinungsaustausch anekdotische Beiträge im Stil von: «Ein Schwager von meinem Arbeitskollegen hatte mal einen Kumpel, und der hat das Ritzel seiner Maschine auf * geändert und danach ging sie ab wie die Hölle!» Also frei von jeglichen Fakten, und häufig nachweislich falsch.
Dabei lässt sich mit nur wenig Physik und Mathematik ziemlich viel Licht in die Zusammenhänge bringen, damit jeder vorab aus den möglichen und berechenbaren Veränderungen die passende aussuchen kann – oder bei vorheriger Kenntnis der Auswirkungen gleich ganz auf eine Änderung verzichtet.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine Ducati Monster 1200S, Bj. 2015, mit den folgenden Eckwerten für den Antriebsstrang. Angegeben sind jeweils die Zähnezahlen der beteiligten Zahnräder:
Primär | 1. | 2. | 3. | 4. | 5. | 6. | Sekundär | |
Eingang | 25 | 15 | 17 | 20 | 22 | 24 | 25 | 15 |
Ausgang | 46 | 37 | 30 | 27 | 24 | 23 | 22 | 41 |
Monster 1200S: Übersetzungen im Serienzustand (Werksangaben Ducati)
Aus den bekannten Übersetzungen Primärübersetzung, Gangstufe und Sekundärübersetzung lässt sich je Gangstufe des Schaltgetriebes die Gesamtübersetzung als Produkt aller drei Teilübersetzungen berechnen:
1. Gang | 2. Gang | 3. Gang | 4. Gang | 5. Gang | 6. Gang | |
Rad/KW | 0.0806 | 0.1127 | 0.1473 | 0.1823 | 0.2075 | 0.2259 |
KW/Rad | 12.41 | 8.88 | 6.79 | 5.49 | 4.82 | 4.43 |
Monster 1200S: Gesamtübersetzung im Serienzustand
Die obere Zeile (Rad/KW) gibt an, wieviele Radumdrehungen man pro Kurbelwellenumdrehung erhält, was nicht sehr anschaulich ist. Die untere Zeile (KW/Rad) gibt daher den Kehrwert des jeweils oberen Wertes an: wieviele Kurbelwellenumdrehungen benötigt man für exakt eine volle Hinterradumdrehung. Im ersten Gang sind dies 12.41 Kurbelwellenumdrehungen für eine volle Hinterradumdrehung.
Für die Reifendimension der Monster 1200S: 190/55-17 ist dies eine Strecke von 1.965 Metern (Abrollumfang).
Die Gesamtübersetzung je Gangstufe ist konstant, und ist weder von der Drehzahl, noch von der gefahrener Geschwindigkeit abhängig. Eine doppelte Anzahl von Kurbelwellenumdrehungen führt zur doppelten Strecke, die dieser Reifen schlupffrei abrollt. Die tausendfache Anzahl Kurbelwellenumdrehungen führt zur tausendfachen abgerollten Strecke, u.s.w..
Wenn man sowohl die Anzahl Kurbelwellenumdrehungen, als auch die zurückgelegte Strecke jeweils auf eine Zeiteinheit bezieht, erhält man eine Drehzahl, z.B. [U/min], und eine Geschwindigkeit, etwa in der Einheit [km/h]. Natürlich muss man evtl. unterschiedliche Zeiteinheiten ineinander umrechnen, um ein sinnvolles Diagramm zu erhalten.
Das Ergebnis kann als Gangdiagramm dargestellt werden, in dem für jede Gangstufe des Schaltgetriebes der Zusammenhang zwischen Drehzahl der Kurbelwelle und der gefahrenen Geschwindigkeit abgelesen werden kann. Für niedrige Gangstufen ergeben sich (relativ) flache Geraden, für höhere Gangstufen steilere Geraden. Sämtliche Geraden beginnen im Ursprung: Drehzahl = 0 und Fahrgeschwindigkeit = 0.

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Das Gangdiagramm ist bereits ein erster Schritt zum Verständnis der Getriebeabstufungen, aber nur begrenzt aussagekräftig. Die meisten Biker interessiert eher, wie sehr die Maschine in der Lage ist, die Arme «lang zu reissen». Um das zu beurteilen, benötigt man die Zugkraft am Hinterrad, also dort, wo die Leistung des Motors auf den Asphalt trifft. Die Zugkraft am Hinterrad lässt sich unmittelbar aus dem Drehmomentverlauf der Maschine herleiten, welcher auf einem Prüfstand ermittelt wird.
Für die folgenden Zugkraftberechnungen habe ich mich auf den hier verlinkten Drehmomentverlauf gestützt. Von diesem Drehmomentverlauf habe ich alle 1000 U/min den Drehomentwert abgelesen und den durch diese Stützpunkte (rote Markierungen und Linien) vorgegebenen Verlauf durch ein Ausgleichspolynom (blaue Kurve) angenähert, welches ich für alle folgenden Berechnungen verwende.
Der verwendete Drehmomentverlauf mag zwar eine unbekannte Genauigkeit aufweisen, was aber für vergleichende Untersuchungen zwischen Serie und Änderung nicht relevant ist.

Der am Prüfstand ermittelte Drehmomentverlauf bildet die Volllastlinie ab, d.h. die Verbindung aller Messwerte für das maximale Drehmoment je Drehzahl.
Selbstverständlich kann man jederzeit durch nur teilweise geöffnete Drosselklappen weniger als das maximale Drehmoment abrufen. Das ist aber für diejenigen, die «mehr» herausholen wollen, nicht von Interesse.
Zur Vereinfachung betrachte ich den gesamten Antriebsstrang: Primärübersetzung, Schaltgetriebe, Sekundärantrieb als verlustfrei. Die Eingangsleistung ab Kurbelwelle ist dann gleich der vom Hinterrad auf die Strasse übertragenen Leistung.
Wir haben weiter oben gesehen, daß die Drehzahl von der Kurbelwelle bis zum Hinterrad auf 1 / 12.41-stel reduziert wird. Um dennoch am Hinterrad die gleiche Leistung wie an der Kurbelwelle zu haben, muss das Drehmoment am Hinterrad auf das 12.41-fache desjenigen an der Kurbelwelle angehoben werden. Bei einem maximalen Drehmoment der Monster 1200S (Bj.2015) von 124 Nm (Werksangabe) steht demnach am Hinterrad ein Drehmoment von 12.41 * 124 Nm bereit, also 1539 Nm. Dieses maximale Drehmoment an der Achse des Hinterrads führt bei einem Radradius (Seriendimension: 190/55-17) von 0.313 m auf eine maximale Zugkraft von rund 4900 N.
Der hier am Prüfstand gemessene Drehmomentverlauf weist aufgrund realer Verluste ein maximales Drehmoment von 111 Nm auf, woraus sich eine maximale Zugkraft von immer noch 4400 N ergibt, im ersten Gang.
Da der Motor nichts vom eingelegten Gang «weiss», und er in jedem Gang den gleichen Drehmomentverlauf aufweist, ergeben sich Zugkraft pro Drehzahl/Gangstufe Kurven wie folgt, mit der maximalen Zugkraft im kleinsten Gang und der geringsten Zugkraft im höchsten Gang:

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Wenn man wissen möchte, bei welcher Drehzahl die Arme am stärksten lang gerissen werden, sieht das schon besser aus. Aber wie schnell fährt man dabei? Die Antwort darauf liefert das Zugkraft/Geschwindigkeit Diagramm:

Klick mich, und ich verwandle mich in ein interaktives Diagramm in dem man sehr detaillierte Untersuchungen vornehmen kann. 😎
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Diskussion der Zusammenhänge:
Wenn man ein wenig mit den o.a. Diagrammen gespielt hat, wird vermutlich offensichtlich, daß jede Verkürzung der Gesamtübersetzung (d.h.: weniger Zähne am Ritzel, und/oder mehr Zähne am Kettenrad) zu einer Erhöhung der maximalen Zugkraft am Hinterrad führt, welche dann bei tieferen Geschwindigkeit anliegt. Das klingt grundsätzlich positiv. Aber kann man diesen Vorteil tatsächlich abrufen? Ich habe da meine Zweifel:
Die Serienübersetzung der Monster 1200S stellt bereits maximal ca. 4.400 Newton an Zugkraft am Hinterrad bereit – bei einer Gesamt-Gewichtskraft von Maschine plus Fahrer von ca. 2.900 Newton – welche bei maximaler Beschleunigung bei knapp über dem Boden schwebendem Vorderrad alleine vom Hinterrad auf den Boden übertragen wird. D.h., die horizontal theoretisch wirksame, maximale Zugkraft beträgt bereits im Serienzustand das ca. 1,5-Fache der wirkenden Gewichtskraft, was einer Beschleunigung von 1.5 g entspricht. Damit haben wir den Bereich der Coulomb’schen Reibung bereits weit hinter uns gelassen. Derartige Beschleunigungen kann man nur unter Ausnutzung von Verzahnungseffekten zwischen den Reibpartnern erreichen, mit speziellen Gummimischungen der Reifen sowie ausreichend erhöhten Temperaturen von Straße und Reifen.
Die tatsächlich maximal erreichbare Zugkraft lässt sich nicht beliebig erhöhen. Sie ist durch zwei Faktoren begrenzt:
- die Haftgrenze des Hinterrades (bei Überschreitung dreht das Rad durch, a.k.a. «burn-out»)
- die dynamische Radlastverlagerung, welche das Vorderrad abheben lässt, a.k.a. «Wheelie».
Die Ingenieure bei Ducati scheinen übrigens die gleichen Überlegungen angestellt zu haben: Selbst eine Panigale 1199S, welche mit 205 PS nochmals 60 PS mehr leistet als die Monster 1200S, ist ebenfalls genauso übersetzt, daß sie maximal 4.400 Newton an Zugkraft auf die Straße bringt. 😉
D.h. für den Möchtegern-Tuner, daß seine durch eine verkürzte Sekundärübersetzung theoretisch vergrößerte Zugkraft nun von der DTC (Dynamic Traction Control) weg-geregelt wird, alternativ von der DWC (Ducati Wheelie-Control). Oder als dritte Alternative: als Gummistrich auf der Straße liegen bleibt. Schon blöd. Die Arme werden einfach nicht beliebig länger.
Was aber auf jeden Fall bleibt, ist das permanent erhöhte Drehzahlniveau bei verkürzter Übersetzung. Ich denke, daß die Lärm-, Verschleiss- und Verbrauchsnachteile auf die Dauer überwiegen, insbesondere auf Langstreckenfahrten. Persönlich sehe ich auch keinen Sinn darin, ein Motorrad, welches in einem sehr breiten Drehzahlbereich ab Werk bereits ein Drehmoment von über 100 Nm bereitstellt, krampfhaft noch weiter aufzumotzen. Sowas hat man als Jungspund vielleicht gemacht, mit einer künstlich gedrosselten 50er, oder mit einer Enduro, die man eher am Trial-Ende bewegen wollte. Aber doch bitte nicht mit einem 145 PS Motorrad welches auf der Straße bereits in jeder Fahrlage mehr Leistung bereitstellt als 90% der Fahrer kontrolliert abrufen können. Es wird – glaube ich – wohl klar, daß ich derartige Manipulationen bei einer Maschine wie der Monster 1200S für ziemlich sinnlos halte.
Bleibt als Letztes die Frage nach den Auswirkungen einer veränderten Sekundärübersetzung auf die erzielbare Höchstgeschwindigkeit:
Hier gilt, daß die Höchstgeschwindigkeit genau dann erreicht wird, wenn die Zugkraft exakt gleich der Summe aller Fahrwiderstände (Rollwiderstand, Strömungswiderstand, Steigungswiderstand) ist. Diese können im interaktiven Zugkraft-je-Fahrgeschwindigkeit Diagramm eingeblendet werden (violette Linie). Die hier voreingestellten Werte sind so kalibriert, daß sie bei Serienübersetzung zur werksmäßig angegebenen Höchstgeschwindigkeit von 255 km/h führen. Für Variationen in der Sekundärübersetzung macht man keinen Fehler, wenn man für den Strömungswiderstand gleiche Querschnittsfläche und gleichen Cw-Wert als gegeben annimmt (ceteris paribus).
Die Höchstgeschwindigkeit wird in exakt dem Punkt erreicht, in dem die Zugkraftkurve die Fahrwiderstandskurve schneidet.