«Jarne» Dynamik

In meinem vorigen Beitrag hatte ich bereits verhaltene Kritik geäussert an der schlichten Konstruktion der Kurvenscheibenkontur aus Kreisbögen und Geradenabschnitten mit jeweils tangentialen Übergängen zwischen benachbarten Kontursegmenten.

Kurvenscheibe aus Geradenabschnitten und Kreisbögen: aussen hui – innen …

Nachdem ich das Problem der Schwingwinkelberechnung des Exzenterhebels (siehe voriger Beitrag) schliesslich gelöst und die Lösung in die entstehende «Jarne»-Animation integriert hatte, hatte ich rein visuell bereits den vagen Eindruck einer gewissen Asymmetrie im Bewegungsablauf gewonnen. Aber wie kann das sein? Schliesslich ist die Kurvenscheibe von «Jarne» dem äusseren Anschein nach vollkommen symmetrisch aufgebaut:

«Jarne» Kurvenscheibe: kann diese Symmetrie trügen?

Zunächst einmal: ich habe die Kurvenscheibe nach Vermessung und visueller Einschätzung so nachkonstruiert, dass sie in meinem 3D-Modell tatsächlich symmetrisch ist.

Die beobachtete Asymmetrie rührt daher, dass das «abtastende Glied», der Exzenterhebel mit Exzenterdorn, mit einem deutlichen Versatz zur Spiegelsymmetrieebene der Kurvenscheibe angeordnet ist.

Exzenterdorn und Drehachse des Exzenterhebels weisen einen signifikanten Versatz zur Symmetrieebene der Kurvenscheibe auf.

Kann man einen derartigen Effekt quantifizieren? Man kann! 💪😎

Da ich den Schwingwinkel des Exzenterhebels in den Grenzen der durch den Computer bzw. die Software vorgegebenen Genauigkeit berechnen kann, und zwar für beliebige Kurbelwellendrehwinkel (und somit Exzenterdrehwinkel), konnte ich mittels Differenzenquotienten auch die Schwingwinkelgeschwindigkeit in der Einheit [Schwingwinkeländerung pro Grad Kurbelwinkeländerung] berechnen. Zusätzlich dann mit der gleichen Methode die Schwingwinkelbeschleunigung in der Einheit [Änderung der Schwingwinkelgeschwindigkeit pro Grad Kurbelwinkeländerung] berechnen. Da Excel nur eine (1) primäre und eine (1) sekundäre Werteachse ermöglicht und ich aber drei Kurven gleichzeitig anzeigen möchte, habe ich die Beschleunigungswerte um einen Faktor 10 hochskaliert, so dass deren Wertebereich danach gut in die Skala für die Winkelgeschwindigkeit (rechts) passt. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:

Schwingwinkel (blau) formelmässig, Winkelgeschwindigkeit (grün) und Winkelbeschleunigung (rot) mittels Differenzenquotienten berechnet

Hinweis zum obigen Diagramm:

Bei Blick auf die Nutseite dreht sich die Kurvenscheibe im (mathematisch negativen!) Uhrzeigersinn, wie in der vorstehenden 2D-Animation gezeigt. Daher ist im obigen Diagramm eine vollständige Kurvenscheibenumdrehung von rechts nach links -360° abgebildet. Das Diagramm muss folglich von rechts nach links gelesen werden.

Der Schwingwinkel, blaue Kurve, spiegelt den durch die Kurvenscheibe vorgegebenen Rast-in-Rast Verlauf wider. Die beiden Rasten sind als horizontale Abschnitte im blauen Kurvenverlauf klar ersichtlich. Auf den ersten Blick erscheint der Kurvenverlauf flüssig und symmetrisch.

Der Verlauf der Winkelgeschwindigkeit (grün) zeigt jedoch bereits sechs markante Knickpunkte, und zwar jeweils bei den Verdrehwinkeln der Kurvenscheibe, an denen der Kontaktpunkt des Exzenterdorns von einem Konturelement (Gerade, Kreisbogen) zum benachbarten Konturelement wechselt. Grund hierfür sind unstetige, d.h.:sprunghafte Wechsel im Grad der Krümmung benachbarter Konturelemente (Gerade, Kreisbögen unterschiedlicher Radien).

Ausgehend von einer exakt horizontalen unteren Geraden (≙ 0°, siehe einleitende Grafik) sind dies die folgenden Verdrehwinkel:

Verdrehwinkel, ca. [°] Ereignis
-9°Übergang zwischen kleinem (innen)-Radius zur unteren Geraden
-45°Übergang von der unteren Geraden zum unteren Übergangsradius
-69°Übergang vom unteren Übergangsradius zum grossen (aussen)-Radius
-150°Übergang vom grossen (aussen)-Radius zum oberen Übergangsradius
-177°Übergang vom oberen Übergangsradius zur oberen, geneigten Geraden
-230°Übergang von der oberen, geneigten Geraden zum kleinen (innen)-Radius
Markante Verdrehwinkel für Jarne’s Kurvenscheibe

Knicke im Schwingwinkelgeschwindigkeitsverlauf (grün) entsprechen Sprüngen(!) im Schwingwinkelbeschleunigungsverlauf (rot). Technisch/physikalisch spricht man in derartigen Fällen von einem Ruck – einer sprunghaften Änderung der Beschleunigung.

What goes up, must come down!

Ein Kurvenscheibenantrieb ist immer dafür gemacht, eine wiederkehrende, periodische Bewegung des Abtriebs zu erzeugen. Nach einer vollen Umdrehung der Kurvenscheibe befindet sich der angetriebene Mechanismus im gleichen Zustand wie vor der Kurvenscheibendrehung (Schrittgetriebe einmal ausgenommen). Im vorliegenden Fall – Jarne’s Kurvenscheibe – bedeutet dies, dass der Exzenter-Schwinghebel bei jedem Kurvenscheibenumlauf einen vollen Winkelhub aufwärts, und einen betragsmässig gleich grossen Hub abwärts ausführt.

Wegen der asymmetrischen, versetzten Abtastung der Kurvenscheibe stehen aber für den Abwärtsschwung des Schwinghebels nur ca. 60° Kurbelwellendrehwinkel zur Verfügung, während für den Aufwärtsschwung ca. 80° Kurbelwellendrehwinkel genutzt werden können.

Es leuchtet unmittelbar ein dass, wenn man die gleiche Strecke (Schwingwinkelintervall) in einer kürzeren Zeit (hier: Kurbelwellen-Drehwinkelintervall) absolvieren muss, man eine höhere Schwingwinkelgeschwindigkeit erreichen muss um «rechtzeitig fertig» zu werden.

Tatsächlich wird im relativ kurzen «Abschwung» eine maximale Schwingwinkelgeschwindigkeit von rund 0.77° Schwingwinkel / ° Kurbelwinkeldrehung erreicht, während es im «Aufschwung» lediglich rund 0.45° Schwingwinkel / ° Kurbelwinkeldrehung sind.

Um in einer kürzeren Zeit eine höhere Geschwindigkeit zu erreichen, muss man zudem eine höhere Beschleunigung wirken lassen. Im «Abschwung» wird ein (absoluter) Höchstwert von ca. 0.044 °Schwingwinkel / (° Verdrehwinkel)2 erzielt. Im «Aufschwung sind es lediglich ca. 0.019 °Schwingwinkel / (° Verdrehwinkel)2 .

Mit der Beschleunigung ist es nicht getan: schliesslich soll das Abtriebsglied nicht mit Höchstgeschwindigkeit gegen einen starren Anschlag fahren, sondern mit Geschwindigkeit Null die gegenüberliegende Rastposition erreichen. Also muss rechtzeitig und kräftig genug verzögert werden. Im «Abschwung» wird etwa 2/3 des Kurbelwellen-Drehwinkelintervalls für die Beschleunigung verwendet, ein Drittel für die Verzögerung. Klar ist damit, dass der Absolutwert der Verzögerung mit rund 0.092 in dieser Konstellation mehr als doppelt so hoch ausfällt wie die voranggegangene Beschleunigung mit rund 0.044. Da die beiden Werte unterschiedliche Vorzeichen aufweisen, ist die Grösse des Rucks proportional zur Summe beider Absolutwerte, also etwa 0.136.

In «Aufschwung» entspricht die Grösse des Rucks dementsprechend lediglich etwa 0.029, also weniger als einem Viertel des Werts im «Abschwung». Interessanterweise steht im «Aufschwung» aus Gründen der Symmetrie nur ein Drittel des KW-Winkelintervalls für die Beschleunigung des Abtriebsglieds zur Verfügung, jedoch zwei Drittel des KW-Winkelintervalls für die Verzögerung. Der Schieber wird also ausgesprochen sanft in seiner Geschlossen-Stellung abgesetzt, während er ausgesprochen ruppig in die Geöffnet-Stellung «gerissen» wird.

Man kann sich die Wirkung des abrupten Wechsels von maximaler Beschleunigung zu maximaler Verzögerung etwa so vorstellen, als ob man in einem Sportwagen bei voller Beschleunigung in den Sitz gepresst wird, um dann übergangslos bei einer Vollbremsung in den Gurt geschleudert zu werden.

In einem Mechanismus wie «Jarne» kommt es bei einem derartigen Vorzeichenwechsel der Beschleunigung zu einem «Anlagewechsel», d.h., in allen spielbehafteten Gelenkstellen wechseln die Kontaktstellen der beteiligten Bauteile zur jeweils gegenüberliegende Seite. Das trägt zumindest zur Geräuschentwicklung bei, vermutlich auch zu erhöhter Bauteilbelastung und Verschleiss.

Was bringt mir das?

Vorläufig und in Ermangelung eigener CNC-Fertigungsmöglichkeiten leider wenig, ausser der Befriedigung meiner intellektuellen Neugierde. Der theoretische weitere Ablauf zur Nutzbarmachung der hier vorgestellten Erkenntnisse wäre wie folgt:

  • Durchrechnen des Schwingwinkelverlaufs des Exzenterhebels bis zum Hubverlauf des Schiebers, als Funktion des Kurbelwinkels (Exzenterdrehwinkels) 𝟈: s = f(𝟈) .
  • Annähern des sich ergebenden Hubverlaufs in den relevanten Abschnitten durch ruckfreie Bewegungsgesetze, z.B. Polynome 5. Grades.
  • Einspeisen dieser Bewegungsgesetze in das Abtriebsglied und Zurückrechnen durch die Getriebekette bis zur modifizierten Fräsermittelpunktsbahn.
  • Numerisch gesteuerte Fertigung der modifizierten Kurvenscheibe.

Ich habe dieses Verfahren (Inverse Kinematik) ausführlich im Zusammenhang mit der Desmodromischen Ventilsteuerung von Ducati Motoren in meinem Desmo Lab vorgestellt, mitsamt interaktiver Animation / Simulation:

Screenshot des «Desmo Lab«

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