Das Martinsloch

Das Martinsloch ist ein Durchbruch natürlichen Ursprungs in der Alpen-Kette der Tschingelhörner südöstlich von Elm im Kanton Glarus (Schweiz) in Form eines etwa 19 Meter breiten und etwa 22 Meter hohen Dreiecks.

Als heller Fleck in der Bildmitte: das Martinsloch

Es befindet sich in rund 2600 Meter über Meereshöhe knapp unterhalb des Gebirgskamms, der die Grenze zwischen den Kantonen Glarus und Graubünden bildet. Sind derartige Felsdurchbrüche sowieso bereits selten, so sticht das Martinsloch durch eine zusätzliche Besonderheit hervor: an wenigen Tagen im Frühjahr und Herbst eines jeden Jahres scheint die Sonne morgens ca. fünf Minuten lang durch das Loch auf den Ort Elm (ca. 980 m.ü.M) hinunter.

Im Herbst dieses Jahres fand der Höhepunkt des Ereignisses am 30. September, bzw. 01. Oktober statt. Als Höhepunkt gilt dieser Datumsbereich deshalb, weil innerhalb dieser Zeit der Lichtfleck der durch das Martinsloch fallenden Sonnenstrahlen genau auf die im Ortskern gelegene Kirche in Elm trifft. Doch auch einige Tage vor und nach dem Höhepunkt lässt sich das Ereignis gut beobachten, dann allerdings von anderen Stellen im Ort aus. Eine diesem Phänomen gewidmete, eigens eingerichtete Webseite des Tourismusverbands Glarnerland wurde leider inzwischen vom Netz genommen und wird aktualisiert wohl erst wieder zum Frühlingsereignis um den 13. März 2024 herum aufgeschaltet. Vor Ort wusste ein 83-jähriger Touristenführer mit 70-jähriger Erfahrung in der Beschreibung des Ereignisses einiges Wissenswerte rund um das Phänomen zu berichten. So z.B., dass sich die optimalen Beobachtungspositionen wegen der Jahreslänge von 365.25 Tagen (was übrigens der Grund für Schaltjahre ist) von Jahr zu Jahr um rund 13 Meter verschieben, bis sie nach jeweils vier Jahren wieder am gleichen Ort liegen.

Meine charmante Assistentin Ursula, unsere Appenzeller Sennenhündin Xändi und ich haben Elm am 02. Oktober dieses Jahres, also einen Tag nach dem offiziellen Höhepunkt, einen Besuch abgestattet. Und das scheint nicht dumm gewesen zu sein: wie der Guide erzählte, hatten am Vortag rund eintausend(!) Besucher das kleine Örtchen Elm geflutet, unter anderem auch wegen des zufällig 😉 gleichzeitig stattfindenden Käse-Festes. Als wir da waren, am 02. Oktober, hatten nur rund zwanzig Schaulustige genügend Platz um das Phänomen zu geniessen und ihre Fötelis zu machen:

Der Moment, an dem die Sonnenstrahlen die Position des Betrachters trafen

Wer meinen Blog schon eine Weile verfolgt, wird ein beständig wiederkehrendes Muster erkennen: ich beobachte ein Phänomen, versuche Abhängigkeiten von Einflussfaktoren zu erkennen und in Formeln zu «giessen», mit deren Hilfe ich dann zukünftiges Verhalten des beobachteten Systems voraussagen möchte. Vor diesem Hintergrund dürfte es wenig überraschen, dass ich ähnlich «gepolten» Zeitgenossen, auch solchen aus weit zurückliegenden Generationen, grosse Wertschätzung entgegen bringe.

Und die Vorhersage, zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort ein durch das Martinsloch fallender Sonnenstrahl auf das Gelände treffen wird, gehört genau zu der Art Vorhersagen, die ich faszinierend finde. Technisch gesehen gehört im Grunde nicht furchtbar viel dazu: man benötigt ein möglichst präzises digitales Höhenmodell des interessierenden Geländes, sowie eine (berechenbare) Vorhersage, unter welchem Azimuth- und Höhenwinkel man an einem bestimmten Ort auf der Erdoberfläche (gegeben durch geographische Länge, Breite und Höhe) zu einer bestimmten Zeit die Sonne sehen wird. Dieser Teil wird als Berechnung des Sonnenstands bezeichnet. Als Ergebnis einer Sonnenstandsberechnung erhält man z.B. ein weiter unten abgebildetes Sonnenstandsdiagramm.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Wann und von wo aus lässt sich das Phänomen beobachten? Diese Fragestellung lässt sich gut in zwei (bzw. drei) Teile zerlegen. Ausgehend von einem geeignet gewählten Beobachtungspunkt, gegeben durch seine geographische Länge und Breite sowie seine Höhe, geht es um die Beantwortung der folgenden Fragen:

  1. In welcher Richtung (Azimut, Höhenwinkel) sieht man das Martinsloch?
  2. An welchem Tag verläuft die scheinbare Sonnenbahn genau durch das Martinsloch?
  3. Um welche Uhrzeit an dem unter Punkt 2 ermittelten Tag sieht der Beobachter die Sonne exakt unter dem gleichen Azimut und Höhenwinkel wie unter Punkt 1 ermittelt?

Als «geeigneten» Beobachtungspunkt hatte ich in Elm die Ecke Dorfstrasse- Hinterbach gewählt. Einerseits aufgrund der Empfehlung der (inzwischen leider vom Netz genommenen) Webseite des Tourismusverbands Glarnerland für unseren Besuchstag (02. Oktober 2023), andererseits ganz pragmatisch weil sich dort der ortskundige Guide postiert hatte und seinen kleinen Vortrag vor Beginn des Ereignisses hielt und man von dort aus einen freien Blick aufs Martinsloch hatte:

Ins Bild klicken um die Ansicht in Google Maps zu öffnen

Da ich der Präzision von Google Maps weniger traue als den offiziellen Daten von Swisstopo©, habe ich die möglichst exakten Koordinaten der Beobachterposition aus Schweizmobil.ch bezogen, welches ihrerseits auf Daten von Swisstopo© zurückgreift.

Ins Bild klicken um die Ansicht in Schweizmobil.ch zu öffnen

Die Schweiz verwendet für offizielle Geo-Koordinatenbezeichnungen das Koordinatensystem LV95 , welches sich relativ zu einem Bezugspunkt in Bern aus einem «Ostwert» und einem «Nordwert» zusammensetzt. Auf beide Werte [m] wird ein hoher, je nach Achsrichtung unterschiedlicher Offset-Wert aufaddiert, so dass Ostwerte und Nordwerte für Punkte innerhalb der Schweiz

  • nie negativ werden können
  • nicht untereinander verwechselbar sind

Im LV95 System lauten die Koordinaten der Beobachterposition:

Ostwert: 2 732 064, Nordwert: 1 197 946, Höhe: 979 m.ü.M.

Im LV95 System lauten die Koordinaten des Martinslochs:

Ostwert: 2 735 890, Nordwert: 1 195 815, Höhe: ca. 2’600 m.ü.M.

  1. Ermittlung von Azimut und Höhenwinkel

Das Azimut 𝝰 errechnet sich aus den Koordinaten beider Orte zu:

𝝰 = ARCTAN( 𝜟Nordwerte / 𝜟Ostwerte ) = ARCTAN( -2131 / 3826 ) = -29.11687°

Der Betrag des Winkels versteht sich relativ zur positiven X-Achse, im mathematisch negativen (Minuszeichen!) Drehsinn, d.h.: im Uhrzeigersinn:

Blickrichtung (Azimut) von Beobachterposition (Elm) zum Martinsloch

Die auf die Ebene projizierte Distanz «D» (rote Strecke in obiger Grafik) berechnet sich mit Pythagoras zu D = 4379 Meter.

Damit ergibt sich der Höhenwinkel «h» zu:

h = ARCTAN( 𝜟Höhenwerte / D ) = ARCTAN( 1621 / 4379 ) = 20.313335°

Der Höhenwinkel versteht sich relativ zur Beobachterebene, d.h., man muss um diesen Winkelbetrag seinen Blick aus der Horizontalen nach oben richten.

2. Ermittlung eines geeigneten Beobachtungstages

Ausgehend von einem gewählten Beobachtungspunkt erhält man für unterschiedliche Tage unterschiedliche scheinbare(!) Sonnenbahnen, die sich für ein ganzes Jahr in einem Sonnenstandsdiagramm abbilden lassen:

Sonnenstandsdiagramm (Beispiel) Quelle: Von S.Wetzel, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32947615

Im konkreten Fall (Sonne scheint durch das Martinsloch) geht es darum, diejenige Tagesbahn zu finden, die vom gewählten Beobachtungspunkt aus durch das Martinsloch sichtbar ist.

Tschingelhörner, Martinsloch und Sonnenbahnen überlagert

Das obige Bild zeigt die scheinbaren Sonnenbahnen für die Tage rund um unseren Besuch in Elm. Von links oben nach rechts unten: 30.09., 01.10., 02.10., 03.10., 04.10.. Die mittlere, grüne Bahn verläuft scheinbar durch das Martinsloch.

Das lässt sich z.B. interaktiv auf der Webseite www.peakfinder.org gut ausprobieren:

Hinweis an dieser Stelle: Peakfinder erhebt nicht den Anspruch maximaler Präzision im Meter- und Minutenbereich, kann aber sehr gut für eine qualitative Veranschaulichung der Zusammenhänge rund um Zeitpunkt, Sonnenstand und Gelände zweckentfremdet werden.

  • Beobachterposition mit Hilfe der Kartenansicht festlegen,
  • Blickrichtung (Azimuth) auf Richtung Tschingelhörner einstellen (120° von Norden aus gesehen im UZS)
  • Mit Hilfe der Schieberegler (Kalender-Applet) das kalendarische Datum rund um den 01. Oktober 2023 variieren und dabei die Veränderung der Sonnenbahn (gelb) beobachten.

Auch wenn das dem Peakfinder zugrunde liegende Geländemodell relativ grob ist und das Martinsloch nicht enthält, lässt sich doch sehr schön die mit fortschreitendem Herbst absinkende und durch das Grosse Tschingelhorn allmählich teilweise verdeckte Sonnenbahn verfolgen.

3. Ermittlung der Uhrzeit des Ereignisses

Unter Beibehaltung des Beobachterstandorts und des Beobachtungstages 02.10.2023 nun über das Uhrzeit-Applet die Uhrzeit rund um etwa 09:35 in Minutenschritten variieren, und dabei den Lauf der Sonne entlang der Sonnenbahn verfolgen.

Selbst berechnen!

Die Verwendung von Programmen Dritter finde ich auf die Dauer unbefriedigend. Erfreulicherweise sind die implementierten Algorithmen öffentlich bekannt. Eine Näherungslösung für die Berechnung des Sonnenstands findet sich auf Wikipedia und weist im Zeitraum zwischen 1950 und 2050 eine Genauigkeit von <0.01° auf – für die vorliegenden Zwecke völlig ausreichend – siehe Fehlerbetrachtung am Ende des Artikels.

Ich habe mir erlaubt, diese Formel(n) in Excel zu implementieren und stelle die Datei am Ende des Artikel zum Download zur Verfügung. Bei der Implementierung bin ich auf diverse Fallstricke gestossen:

  • Winkelangaben für den Beobachterstandort (geographische Länge und Breite) werden im WSG 84 Koordinatensystem (Gradangaben östlicher Länge bzw. nördlicher Breite) benötigt und müssen daher aus dem in der Schweiz verwendeten Koordinatensystem LV95 konvertiert werden. Das Schweizer Bundesamt für Landestopographie swisstopo stellt dankenswerterweise die benötigten Formeln zum Download zur Verfügung. Auch diese Formeln sind in der von mir bereitgestellten Exceldatei in einem separaten Tabellenblatt implementiert.
  • Die gewünschte Uhrzeit, für die man den Sonnenstand berechnen möchte, muss in UTC (plus ggf. passendem Offset) angegeben werden. Für die Schweiz und Mitteleuropäische Sommerzeit (MESZ) bedeutet dies: UTC+2. Beispiel: für die Elmer Ortszeit 09:36 muss die Eingabe als 07:36 vorgenommen werden.
  • Die resultierenden Winkel Azimut und Höhenwinkel verwenden ungewohnte Nullpunkte und Drehrichtungen. Bitte hier die Angaben in der Excel-Tabelle oder in der Beschreibung der Formeln auf Wikipedia beachten.
  • Zu guter Letzt: erwarten Excel Winkelfunktionen Eingaben im Bogenmass und liefern Winkelausgaben (z.B. bei Arcus-Funktionen) ebenfalls im Bogenmass. Hier musste fallweise zwischen Gradangaben und Bogenmass konvertiert werden. Die Ausgabe von Azimut und Höhenwinkel erfolgen in der Exceltabelle als Winkelgrade.

Erwartungswerte vs. Sonnenstandsberechnung

Weiter oben hatte ich nach Ablesung aus einer topographischen Karte (Schweizmobil.ch) für meinen gewählten Beobachtungspunkt die folgenden Winkel für die Blickrichtung aufs Martinsloch ermittelt:

Azimut-29.11687°
Höhenwinkel+20.31334°
Erwartungswerte für Blickrichtung von Elm aus aufs Martinsloch

Für die gleiche Beobachterposition und eine Beobachtung am 02. Oktober 2023 ergab sich die beste Annäherung der berechneten Werte an die obigen Winkel für den Zeitpunkt 09:32:01 (Ortszeit). Die «beste» Annäherung habe ich dabei als Minimum der Summe der Fehlerquadrate definiert:

Azimut-29.198°
Höhenwinkel+20.193°
Berechnete Bestwerte für Überlappung von Sonne und Martinsloch

Die Abweichungen zwischen Erwartungswerten und berechneten Werten betragen also 0.081° für das Azimuth und 0.118° für den Höhenwinkel.

Ist das gut oder schlecht?

Das kommt auf den Anwendungsfall an: wenn ich in einer Entfernung von knapp 4.7 km (entspricht der Luftlinienentfernung zwischen Beobachter und Martinsloch) einen Faden durch ein Nadelöhr fädeln müsste, wäre eine solche Abweichung offensichtlich indiskutabel.

Im vorliegenden Fall beträgt die Abweichung des Azimut zwischen linkem Rand und rechtem Rand des 18 Meter breiten Martinslochs von der gleichen Beobachterposition aus rund 0.22°. Die Abweichung zwischen linkem Rand und rechtem Rand der Sonne beträgt hingegen satte 0.53°. Das Martinsloch erlaubt also im günstigsten Fall immer nur einen Blick auf einen Teil der Sonnenscheibe. Das Phänomen «Sonnendurchgang» liesse sich darüberhinaus auch bei einer nur teilweisen Überdeckung des Martinslochs durch die Sonne beobachten, was den Toleranzbereich gegenüber nicht exakter Ausrichtung nochmals erheblich vergrössern würde.

Grössenverhältnisse Martinsloch (schwarz) und Sonnenscheibe (rot), für einen Beobachter in ELM

Angesichts der Grössenverhältnisse dürfte das Azimut der Sonne um 0.2° variieren und der Höhenwinkel um 0.1°, damit das Martinsloch immer noch vollständig durch die Sonne ausgefüllt bliebe.

Die tatsächliche Abweichung zwischen berechneten Winkeln und aus der topographischen Karte abgeleiteten Winkeln liegt in der Grössenordnung von (nur!) einem(1) Zehntel Grad. Ich werte dies als Volltreffer. 😎

Ausklang

Um unsere insgesamt rund drei Stunden in Anspruch nehmende Anfahrt und Heimreise für ein nur rund fünf Minuten währendes Erlebnis angemessen zu amortisieren, haben wir noch eine schöne Rundwanderung über den Firstboden angehängt, gekrönt von einem tollen Panoramablick bis weit ins Sernftal hinein:

Wer findet das Martinsloch?

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